Literatur ist selbstverständlich fiktional, das ist jedem bewußt. Aufgabe des Autors ist, dem Leser mittels Bilderreichtum, Sprache und plausibler Schilderungen von Handlung und Personen ungehindert in eine Geschichte eintauchen zu lassen, so lautet eine unausgesprochene Regel. Den Leser also offensiv mit der eigenen Fiktionalität und daher auch dem willkürlichen Handlungsverlauf zu konfrontieren, diesen Weg nun wagen wenig Texte. Ein Beispiel hierfür ist „wem wenig vergeben wird (darf fressen mein Herz)“, das neue Buch von Vincent E. Noel.
Hier wird ein den üblichen Lesegewohnheiten entgegengesetzter Weg gewählt und ein intellektuell-distanzierter Ich-Erzähler installiert, der mit Abstand und einer gewissen Kälte die Geschichte der zwei Schwestern Julija und Isaweta schildert, die ihre istrische Heimat verlassen, um in der Ferne ihr Glück zu versuchen in einem Europa, in dem es kalt und grau geworden ist – ist es doch das Jahr der Pest.
Die Protagonisten – die beiden Schwestern, die Edelfrau Agnes, ein alter Bibliothekar, der ominöse Glücksritter Nicolaos, das Fischerpaar Stjepan und Milena (beide können aus Muscheln die Zukunft prophezeien) – werden derart von ihren Trieben und Sehnsüchten zerfressen, daß sich keine Sympathien für die Handelnden entwickeln. Vielleicht noch für Julija und Isaweta mit ihrem Hauch eines mittelalterlichen „Bonnie und Clyde“.
Dieses Buch ist kein Historienepos, auch kein typischer Roman, es läßt sich im Grunde in gar keine Schublade stecken. Fest steht, es ist alles andere als literarischer Mainstream. Was im Übrigen nur positiv ist. Das beginnt bereits bei der Sprache – auf den 100 Seiten gibt es kaum vollständige Sätze, eher Gedicht -, Gedankenfetzen, die durch die unruhige Formatierung hervorgehoben, mitunter auch zertrümmert werden. Auch dieses Buch ist, typisch für Noel, bewußt monoton. Man muß sich der eigentümlichen Sprache hingeben und sich intensiv auf sie einlassen, mit allen Entbehrungen hinsichtlich einer Erwartungshaltung. Unendlich lange, monströse Schachtelsätze werden vor die Füße des Lesers geworfen, dem höchste Konzentration abverlangt wird. Wer sich auf das Experiment einlässt, wird mit einer detailverliebten Lektüre belohnt und mit einem Werk, in dem mehrere Geschichten in einer zu finden sind. Und das ist etwas, was man – leider – in der heutigen Literatur viel zu selten findet.